Meinung 12. Oktober 2012

Online ist kein Zustand – Online ist immer

by Christian Jakubetz

Wenn man sich die Debatten um das Web so ansieht, könnte man meinen, das Medium Radio sei davon nur wenig betroffen. Ein Trugschluss, stattdessen müssen sich auch Radiomacher auf erhebliche Veränderungen einstellen. Dabei gibt es aber mehr Chancen als Risiken. Ein Gastbeitrag von Marcus Engert.

Radio – das ist künftig weitaus mehr als nur automatisierte Playlists und ein paar Stadardbeiträge.

Was für ein unbefriedigende Situation: verschiedene Studien kommen zu noch verschiedeneren Ergebnissen, was die Zukunft des Radios betrifft. Da ist Online mal der Heilsbringer und mal der Niedergang für das Radio. Mein Problem mit derlei Erhebungen ist, dass das „Online sein“ hier so oft als ein gesonderter, separater Zustand angesehen wird. Als trete man in einen abgeschlossenen, etwas unbekannten Raum, gänge dort ins Netz, und schließe die Tür hinter sich, wenn man wieder Offline geht. Diese Vorstellung von „Online sein“ hat sich überholt. Ich sehe „Online sein“ nicht als einen gesonderten Zustand an. Online wird immer sein.

Vor diesem Hintergrund sollten Fragen und Thesen zur Veränderung unserer Medienwelt gestellt werden. Wir haben uns diese für das Radio gestellt: und unsere Fragen mündeten vor drei Jahren in der Gründung von „detektor.fm“.

Eine Grundsatzfrage, die wir uns stellten: Wenn „Online sein“ immer sein wird – was macht dann Online mit dem Radio?

Auch hier muss eingangs der Befund gestellt werden, dass verschiedenste Szenarien von beiden Polen der Skala umhergeistern. „Alles wandert ins Smartphone“ auf der einen Seite – „UKW wird nie verschwinden, gleich gar nicht im Auto“ auf der anderen. Keines von beiden stimmt, denken wir. Gleichwohl aber gibt es Indizien, die einen Weg vorzuzeichnen scheinen, wie Nutzungsstudien zeigen:

– Zwischen 2007 und 2010 stiegt die Radio-Nutzung ohne Radiogeräte der jungen Zielgruppe (14-29 J.) deutlich:

  • Internet + 153 % (!)
  •  MP3-Player/iPod/Zune + 141 %
  • Handy/Smartphone + 033 %

Eine andere Frage: was passiert mit Menschen, nachdem sie sich ein W-Lan-Radio gekauft haben. Nach dem Kauf hören diese Nutzer über den gesamten Tag hinweg mehr Radio UND mehr Webradio. Auch abends, wo üblicherweise das TV stärker ist. Die morgendliche Nutzungsspitze bleibt. Aber: auf die Frage nach dem Lieblingsformat antwortet der ganz überwiegende Teil der Nutzer von 14-29 Jahren, dass sie dieses ausschließlich im Webradio finden. Interessant: die Wachstumsraten für die Nennung „reines Webradio“ kommen nicht von den Beliebtheitswerten öffentlich-rechtlicher oder privater Sender. Sie erwachsen aus der Gruppe, die bisher „kein Lieblingsprogramm genannt“ haben. Es scheint also, Webradio ist eine dankbar angenommene Ergänzung, erst mal keine Bedrohung für bestehende Anbieter. Und: nach einem Jahr Besitz eines Wlan-Radios wächst die Webradio-Nutzung sogar noch.

Marcus Engert

Noch tragen sich UKW-basierte Geschäftsmodelle und mit DAB+ scheint sich eine Verlängerung derselben in einem dann zwar auf einem technisch anderen Level, aber auf die gleiche Art abgeschotteten Markt anzudeuten. Das Problem der klassischen Radioanbieter liegt also nicht im Heute – es liegt im Morgen. In diesem Morgen werden anfangs wegen der Unübersichtlichkeit und Vielzahl der Angebote die klassischen Anbieter von ihren starken Marken profitieren – anfangs. Jüngere Zielgruppen suchen schon heute aktiver auch nach Spartenangeboten: „Die Generation der Digital Natives nutzt die riesige Auswahl im Internet mit größerer Selbstverständlichkeit und probiert häufiger auch neue, nicht aus dem UKW bekannte Sender aus.“ – und das tun gestern und heute die sogenannten „digital natives“, und heute und morgen breitere Bevölkerungsschichten.

Alte Regeln für das Radio von morgen

Bereits bei früheren medialen Veränderungswellen (Umbruch im Printmarkt, im TV-Geschäft, im Musikgeschäft) haben wir ein ähnliches Nutzerverhalten gesehen. Damit steht die These im Raum, dass damals gültige Regeln für die Frage, wann ein neues Medienprodukt Erfolg haben kann, auch für das Radio der Zukunft gelten. Diese Regeln für ein Radio 2.0 könnten sein:

− Ein neues Radio muss die Empfangsqualität von UKW erreichen oder toppen

− Ein neues Radio muss annähernd die gleiche Usability gewährleisten

− Ohne starke Markenbindung und entsprechende Strategien zur Bildung derselben wird es schwer – aber nicht unmöglich!

− Die generelle und wichtigste Regel: Keep it simple!

Die etablierten Marken müssen sich vermutlich auf eine Diversifikation einstellen: das Publikum wird sich ein Radiobukett aus einem viel breiteren (auch internationalen) Angebot zusammenstellen, als es heute geschieht. Das klassische Radio wird eine Option sein – eine Option unter vielen.

Senderpräferenzen verschieben sich zugunsten neu entdeckter Angebote – und wie Studien zeigen, ist dies auch kein kurzfristiger Effekt, der auf ein Neuigkeitsgefühl zurückgeführt werden kann. Norbert Bolz beschrieb das mit dem Hinweis auf ein Phänomen in der Nutzung von Massenmedien, welches als „Serendipity-Effekt“ bezeichnet werden kann: „Wie im Märchen (…) stoßen wir als Leser oder Hörer auf einen Schatz, den wir gar nicht gesucht haben – die zufällige Begegnung mit dem Faszinierenden. Hier kann gerade der die schönsten Überraschungen erleben, der gar nicht genau weiß, was er sucht.“

Was passiert mit den Hörern?

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Radiokonsum haben sich grundlegend gewandelt. Das gemeinsame Versammeln vor dem Radio findet nicht mehr statt. Hören wird individuell, und nachgelagert wird darüber kommuniziert: auf Smartphones und Tablets, mit mobilen Apps, in sozialen Netzwerken, auf twitter usw. usf. Eine Erkenntnis auch: was Interaktion betrifft, hält sich der Wunsch der Hörer nach „Jeder ist sein eigener Programmchef“ in engen Grenzen. Der Punkt hierbei ist jedenfalls nicht, dass es sich um neue Technologien handelt. Der Punkt ist: Wir beobachten hier ein ganz neues Verhalten! Und das auf allen Ebenen der Mediennutzung. Wichtig ist, was wir als Macher, als Redakteure, freie Mitarbeiter, Konzept- und Ideengeber, Redakteure, daraus für Fragen ableiten. Eine könnte sein: wird es überhaupt morgen noch „Hörer“ geben? Oder gibt es bald nur noch „Nutzer“? Wir glauben an das Überleben des Hörers. Auf eines aber werden wir uns gefasst machen müssen: welchen Sender die Menschen hören, entscheiden sie zunehmend selbst und nicht mehr nur über die Frage, welcher Sender aktuell am wenigsten nervt.

Was passiert mit den Machern?

Wir erklären unseren Hörern jeden Tag Themen. Jeden Tag. Aber eines hat der „klassische“ Medienmacher nicht gelernt: sich, seine Arbeit zu erklären. Das müssen wir aber tun. Denn all diese Entwicklungen zwingen uns Fragen auf. Welche Journalisten brauchen wir morgen: Generalisten oder Spezialisten? Wie sieht das Ausbildungswissen von morgen aus? Was davon sollten wir weitergeben? Kommen wir selbst (noch) mit, mit den Veränderungen die sich rund um Vernetzung, Verlinkungen, Teilen multimedialen Contents, Interaktion und Co. abspielen? Verstehen wir die Plattformen? Egal, wie die Antworten individuell darauf ausfallen – eines stünde vielen Medien sicherlich gut zu Gesicht: wenn sie Jeff Jarvis´ simple Regel öfter beherzigen würden, die da heißt: „Cover what you do best – link to the rest“.

Da Musik noch immer einer der Hauptgründe ist, Radio zu hören, ist es auch angezeigt, ein paar Worte zu den Musikredakteuren zu verlieren. Diese Spezies musste in den vergangenen Jahren schon arg Federn lassen – und wird es wohl noch weiter müssen. Die Musikselektion nach user-generated-input wird zunehmen. Personalisierung und Algorithmen werden sich ausweiten und automatisierte Playlistengenerierung wird häufiger werden. Wir werden eine Dezentralisierung der Arbeitsplätze beobachten, eine Monopolisierung der Bestückung bei gleichzeitiger Differenzierung der Ausspiel-Wege: oder anders, ein Musikredakteur wird vom Home Office aus Jazz-, Pop-, Rock- und Elektro-Channels mehrerer Senderstationen bestücken können. Ich gehe des Weiteren davon aus, dass mittelfristig Musiknutzung unlimitiert möglich sein wird: über Abo-Lösungen und Cloud-Speicherung, wie die aktuellen Entwicklungen um spotify, simfy und Co. und die Tatsache ihrer Lizenzierung durch die GEMA bereits andeuten. Gerade hier aber wird es folglich eines brauchen: Analyse, Einordnung, Kritik, Selektion und den Dialog – kurz: Journalisten. Reine technisch zusammenprogrammierte Playlisten sind charme-frei, emotionslos – und was anderes ist Musik, wenn nicht Emotion?

 Radio wird ein Stimmungsmedium

Radio war bisher in weiten Teilen ein Nebenbei-Medium. Es wird künftig mehr noch ein Stimmungsmedium werden. Dirk Ziems Vermutung, Radio werde künftig verstärkt an sog. „Übergangssituationen des Alltags“ genutzt (beim Heimweg aus dem Büro nach Hause, beim häuslichen Feierabend, vor dem Ausgehen mit Freunden) scheint schlüssig für Musikformate, ignoriert aber ein Stück weit Wortformate. Wahrscheinlicher ist wohl, dass sich ebenjene dieser Annahme zugrundeliegenden festen Alltagsstrukturen noch mehr auflösen und individualisieren, und damit auch der „Alltag“ weniger synchron wird – wie eben auch das Radiohören. Radiomacher von morgen kämpfen also um – ja, worum eigentlich? Um Aufmerksamkeit? Um Vertrauen? Um Zeit?

Was passiert mit den Medien – inhaltlich?

Wir sahen und sehen im Radio deutliche inhaltliche Verschiebungen und das wird auch anhalten. Es scheint also eine umfassende Transformation von Nöten, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Und wir beobachten bereits zunehmend den Übergang klassischer Kompetenzfelder des Radios auf andere Plattformen:

Statt „was?“ und „mit wem?“ wird wichtiger werden, das „warum?“ und „wie?“ auszuleuchten. Das heißt aber auch: Nicht mehr das Medium oder der Kanal ist der Wert, sondern die Marke. Auf rein betriebswirtschaftlicher Ebene wird das natürlich ein weiteres Mal den Druck erhöhen: Ein Problem für Lokalradios, deren redaktioneller Betrieb in kleineren Einheiten schlicht zu teuer werden könnte und deren Einzugsgebiet an potentiellen Werbetreibenden im Netz für weniger Geld sehr viel gezieltere Formen geboten bekommen könnte. Micro-Blogging, lokale Infoportale und regionale Blogs werden dem Lokalrundfunk arg zusetzen. Größere Senderketten werden die regionale (nicht: lokale!) Komponente weiterhin und stärker über einzelne Fenster-Schaltungen realisieren, was zur Vereinheitlichung des Gesamtspektrums und zur Nivellierung von Vielfalt führen könnte – oder mit Dirk Ziems gesagt: „Lokalradio ist keine eigene Gattung, sondern Mainstreamradio mit lokaler Komponente.“

Neue Stärken des Radios

Warum ist Radio heute (noch) so, wie es ist?

  • Weil mobiles bezahlbares Breitband-Internet noch beschränkt ist
  • Weil lokale Themen noch außerordentlich wichtig sind
  • Weil Werbetreibende noch zurückhaltend sind beim Ausprobieren neuer Formen im WWW
  • Weil die Medienmacher noch keine einheitliche Reichweiten-Währung definieren konnten, mit der sie ihre Produkte vermarkten und vergleichen
  • Weil sich folglich die alten Geschäftsmodelle halten und neue noch nicht entwickelt haben

Die Frage ist mit Sicherheit nicht die, ob Radio sich wandelt – sondern wann sich Radio wandelt, und zwar radikal. Wir bewegen uns von Massenmedien (1 Marke/1Program – x Nutzer) weg und hin zu einer Masse von Medien (1 Marke/1Programm für x Nutzer oder x Marken mit y Programmen für z Nutzer). Könnte Authentizität hier die entscheidende Chance, der USP sein? Kommt es zu einer Renaissance der Wertigkeit von Audio? Was wird Sprachsynthese mit dem Feld machen? Kann gutes inhaltliches Radio zum Luxus werden? Es sind dieses wohl auch Glaubensfragen. Man kann sie nicht mit Sicherheit beantworten. Sich ihnen frühzeitig zu stellen, ist aber mit Sicherheit nicht falsch. Ich habe einige Glaubensfragen für mich wie folgt beantwortet:

  • Mitnichten ist jeder ein (Leser-)Reporter. Es wird immer Journalisten brauchen.
  • Musik geht über reine Automation hinaus. Algorithmen allein genügen nicht.
  • Community ist NICHT alles.
  • Journalisten sind nicht dasselbe wie Content Manager. Journalisten brauchen eine Ethik.

Boulevard wird immer bleiben, immer beliebt sein und immer Nutzer finden – die Dominanz der Unterhaltung wird sich wohl sogar noch verstärken. Das ist aber auch gar nicht schlimm. Wir müssen in der Debatte Entertainment von Journalismus trennen. Beides hat seine Berechtigung, beides sollte nicht gegeneinander abgewogen werden. Es unter einem gemeinsam Hut zu diskutieren halte ich jedoch für falsch. Gutes Entertainment braucht eigene Regeln, eigene Erfahrungen und eigene darauf spezialisierte Macher – wie guter Journalismus auch.

Zum Autor

Marcus Engert ist Gründungsgesellschafter und Chefredakteur von detektor.fm und lehrt im Master-Programm „Online Radio“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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