Der Journalismus in Deutschland steht vor existenziellen wirtschaftlichen, medienpolitischen und professionellen Herausforderungen. Die Digitalisierung hat in vielen Medienhäusern zu einem Sinneswandel geführt: Online gilt als Innovationstreiber Nummer eins, jedoch stellt die unausgereifte Finanzierung nach wie vor das größte Hemmnis für Investitionen dar. Das ist das Ergebnis des „Innovationsreport Journalismus“, den die beiden Kommunikations- und Medienwissenschaftler Dr. Leif Kramp (ZeMKI, Universität Bremen) und Dr. Stephan Weichert (Professur und stellvertretende Studiengangleitung Journalistik, Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation Hamburg) erstmals im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt haben.

An der nicht-anonymisierten Befragung, in deren Fokus neue Innovationsfelder im Journalismus, die Relevanz journalistischer Informationsangebote, alternative Geschäftsmodelle und die journalistische Aus- und Weiterbildung stehen, beteiligten sich mehr als 200 von insgesamt 1.115 ausgewählten deutschsprachigen Experten aus Journalismus, Verlagsbranche, Rundfunk, Medienpolitik sowie Medien- und Kommunikationsforschung. „Unsere Erhebung liefert grundlegende Hinweise darauf, wie sich die deutsche Presselandschaft unter dem Einfluss der Digitalisierung verändert“, sagt Leif Kramp.
„Der aktuelle Strukturwandel zur digitalen Öffentlichkeit fordert den professionellen Journalismus geradezu heraus, sich neu zu erfinden“, erklärt Stephan Weichert. Ob in Bezug auf die Finanzierung der Presse, das Redaktionsmanagement oder Experimente mit interaktiven Darstellungsformen – die größten Impulse gingen eindeutig vom Online-Bereich aus, das bestätigten sämtliche Befragte. Nach dem Eindruck der Experten arbeiten deutsche Verlage zwar an tragfähigen Zukunftsstrategien, lassen aber teilweise den nötigen Nachdruck vermissen: Die Dringlichkeit des Umdenkens sei noch nicht in den Köpfen der Verantwortlichen in den Führungsebenen angekommen, da diese zu zaghaft handeln.
Ausbleibende Innovationsbereitschaft
Als wegweisende Innovationskräfte werden von den Befragten Spiegel Online und Zeit Online genannt, die mit sozialen Netzwerken, Kollaborationen mit Nutzern und im Bereich Datenjournalismus und Visualisierung von Daten experimentieren. Einige Experten weisen jedoch vor allem auf den Einfluss kleinerer Online-Angebote wie das des Freitag sowie von Blogs und Wiki-Plattformen hin, die wichtige Akzente setzen. Radikale Neuerungen wie in Großbritannien oder in den USA lassen jedoch noch auf sich warten: Im Vergleich fällt der Innovationsstandort Deutschland weit hinter ausländische Pressemärkte zurück.
„Bahnbrechende Neuentwicklungen sind in Deutschland wohl erst dann zu erwarten, wenn sich die Branche auch im Bereich der Erlösmodelle experimentierfreudiger zeigt“, glaubt Weichert. Trotz der gestiegenen Lust am Ausprobieren, werde in vielen Bereichen immer noch gekleckert statt geklotzt. Die zentrale Frage ist laut Weichert, wie lange sich die deutsche Presse das überhaupt noch leisten kann.
Insgesamt verfestigt sich im Befragtenumfeld die Auffassung, dass im nicht mehr funktionierenden Geschäftsmodell möglicherweise das Hauptproblem für die ausbleibende Innovationsbereitschaft vieler Zeitungsverlage und Fernsehunternehmen liegt, weil es dem Journalismus an finanziellen Ressourcen mangelt. „Das Innovationsmanagement in den meisten Verlagshäusern hierzulande erscheint eher schwerfällig denn proaktiv, da sie im Großen und Ganzen – um auf Nummer sicher zu gehen – eher erfolgreiche Neuerungen aus dem Ausland adaptieren“, sagt Kramp. Grundlegende Alternativen zur traditionellen Mischfinanzierung aus Werbe- und Vertriebserlösen werden von den meisten Befragten allerdings nicht gesehen. Als sehr ambivalent werden etwa zivilgesellschaftliche Finanzierungsmodelle beurteilt, etwa durch Stiftungen oder Spenden.
Gegenseitige Lerneffekte
Insgesamt herrscht im Nachrichtengeschäft eine positive Grundhaltung zum aktuellen Medienwandel: „Beschleunigung und Dynamisierung sind offenbar keine Kategorien mehr, vor denen Journalisten heute noch Angst haben, sondern etwas, das zu ihrem Beruf mit dazu gehört“, sagt Weichert. Die Digitalisierung werde neuerdings als Chance begriffen: Neue Werkzeuge und Analyseinstrumente, sogar die wachsende Datenflut im Internet werden von einem Großteil der Befragten als positiv für den Journalismus bewertet.
„Das Internet wird seine Vormachtstellung in der Informationsnutzung zu Ungunsten der tradierten Medien weiter ausbauen – auch abseits journalistischer Angebote“, prognostiziert Kramp. Dies bedeute allerdings keinen Bedeutungsverlust für die Presse als solches – im Gegenteil: „Der Zugriff auf Informationen, die in traditionellen Presseverlagen und Rundfunkhäusern auf professionelle Weise entstehen, wird weiterhin konstant hoch bleiben.“ Aufgrund der freien Verfügbarkeit von Nachrichten und der damit einhergehenden Unübersichtlichkeit glauben die Experten allerdings, dass Journalisten künftig noch stärker einordnen, analysieren und bewerten müssen.
Hohen Kooperationsbedarf und gegenseitige Lerneffekte sehen die Befragten zwischen Redaktionen und Hochschulen: Die überwiegende Mehrheit glaubt, dass ein intensiver Austausch dazu beitragen könnte, die Herausforderungen des digitalen Medienwandels zusammen besser bewältigen zu können. Während sich Redaktionen nur bedingt als lernende Organisationen begreifen, zeichnen sich meisten journalistischen Ausbildungseinrichtungen durch hohe Flexibilität und immenses Kreativpotenzial aus.
Weitere zentrale Ergebnisse des „Innovationsreports Journalismus“ sind:
- Das Internet ist das Medium der Stunde – vor allem, was die Neuerfindung und Reformierung des journalistischen Berufsfeldes angeht. Vor allem wird die publizistische Bedeutung des Web 2.0 bzw. des Social Web als Distributions- und Kommunikationskanal weiter wachsen. Gleichzeitung wird Journalisten in Zukunft noch stärker die Einordnung, Analyse und Bewertung von Informationen abverlangt.
- Das Internet gilt wegen seiner technologischen Spielräume als Innovationstreiber des Journalismus schlechthin, jedoch stellen unausgereifte Finanzierungsmodelle vorläufig das größte Hemmnis für gewagte Investitionen dar.
- Die Voraussetzung für Innovationen schafft die Chefetage, aber die redaktionelle Basis muss sie mittragen. Nachhaltigkeit in punkto Innovation ist zumindest für die meisten Geschäftsführungen ein Fremdwort – die Notwendigkeit zur Neuerfindung des Journalistenberufs verpflichtet primär die Chefredaktion, Innovationen anzustoßen oder durchzusetzen.
- An einem „dritten Weg“ führt im Journalismus langfristig kein Weg vorbei – zumindest, was die Refinanzierung von Nischen, die Förderung randständiger Arbeitsschwerpunkte oder die investigative Recherchekultur betrifft. Die Förderung einzelner Branchen wie der Zeitungsverlage ist jedoch als unlauter und auch rechtlich problematisch einzustufen.