Journalismus muss kurz und präzise sein und darf bestimmte Längen nicht überschreiten? Ein Klischee, das ausgerechnet dort widerlegt wird, wo man es eigentlich am allerwenigsten erwarten würde…

Über lange Zeit galt Journalismus, der über bestimmte Reglementierungen hinausging, als nur schwer verdaulich. Und damit auch als schwer verkäuflich. 1.30 beispielsweise als Limit für Fernsehen und Radio, 80 Zeilen für die Zeitung – fast jeder kennt solche mehr per minder willkürlich festgesetzten Grenzen, über die Konsumenten angeblich nicht hinauszugehen bereit sind. Ausgerechnet im Netz feiert jetzt eine Idee fröhliche Urständ´, die man dort am wenigsten erwartet hätte: Eine gute Geschichte braucht so viel Platz wie sie braucht. Keine Grenzen, keine Limitierungen. Ausgerechnet im Netz – wo man doch über lange Zeit gepredigt hatte, gerade dort müsse es besonders schnell gehen. Wo doch die Menschen dort nur die schnelle, flüchtige Information suchen, die sie dann später in den klassischen, analogen Medien vertiefen wollen.
Dafür gibt es bereits auch einen Namen: „long form jornalism“. Die Länge solcher Stücke? Irgendwo zwischen dem klassischen Artikel und eine Erzählung, wie die englische Wikipedia nahezu launig anmerkt. Tatsächlich ist diese sehr breit gefasste Definition aber auch die einzig mögliche. Long-form-Stücke zeichnen sich eben gerade dadurch aus, dass sie sich für Längen und Umfänge nicht interessieren, sondern sich den Platz nehmen, den sie brauchen.
In Deutschland ist es momentan vor allem die Redaktion von „Zeit Online“, die immer wieder solche langen Stücke macht. An ihren Beispielen zeigt sich auch exemplarisch, was solche Beiträge ausmacht. Neben der längenmäßigen Freiheit kommen zwei auffällige Merkmale hinzu:
- Multimedialiät
- Narrative Erzählformen
Konkret: In solchen Stücken finden sich Elemente wie Videos, Audios, Slideshows, Timelines und andere interaktive Tools konsequent als Teil der Erzählung wieder. Also nicht, wie bisher im Netz so häufig beobachtet, als beliebig dazugestelltes Bonusmaterial, sondern als integrierter Bestandteil der Geschichte. Das bedeutet aber auch zwangsläufig, dass Longform-Beiträge gut geplant und komponiert sein müssen. Ohne ein Storyboard dürfte eine solche Geschichte schnell beliebig wirken.
Longform: Ein paar Beispiele
Washington Post: After Newton Shooting
New York Times: The Dream Boat
New York Times: Invisible Child
Axel Springer Akademie: Unter anderen
Zeit Online: Das neue Leben der Stalinallee
Ein Musterbeispiel: die Reportage „The Russia left behind“ der „New York Times“. Sie beinhaltet alles, was zu einem solchen Stück gehört, arbeitet mit Videos, interaktiven Karten, Bildergalerien. Und vor allem: mit sehr viel und sehr langem Text. Wer dieses lohnenswerte Stück konsumieren will, muss schon ein bisschen was an Zeit mitbringen.
Die Zukunft solcher Stücke in Deutschland? Ungewiss. Es sind noch nicht allzu viele, die sich bisher darauf eingelassen haben. Neben dem offensichtlich unausrottbaren Vorurteil, im Netz seien Schnelligkeit und Kürze die entscheidenden Faktoren, kommt bei den Longform-Stücken noch etwas anderes hinzu: Sie kosten Zeit und Geld. Zwei Dinge, mit denen der Journalismus in Deutschland momentan nicht gerade reich gesegnet ist.