Bildjournalismus ist tot, nicht bezahlbar und digitale Publikationen sind nicht umsetzbar – viel wurde seit Markteinführung des iPads fabuliert, wenig Neues und Spannendes produziert. Wie Bildjournalismus dennoch überleben, sich neue Plattformen erarbeiten kann, in brillanter Form, mit gelungener Navigation, beeindruckenden Bildern und sparsam dosierten Videos, zeigt die iPad-App „Der lange Schatten von Tschernobyl“ des deutschen Dokumentarfotografen Gerd Ludwig.
Tätig für GEO, Stern, National Geographic, hat Ludwig über mehr als 20 Jahre die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl dokumentiert. Hier zeigt er neben Bildern seiner letzten Reise nach Tschernobyl im Frühjahr 2011 auch viele, bislang unveröffentlichte Bilder aus der verstrahlten Zone rund um Pripyat und den zerstörten Reaktor – ergänzt durch zwei Videos, einer Einführung von Gerd Ludwig und einem Essay des Osteuropa-Experten Dr. David Marples.
In zweierlei Hinsicht ist die App ein spannendes Beispiel für die Möglichkeiten Digitalen Publizierens für Bildjournalisten, Photographen und Journalisten: Redaktionelle Konzeption und Gestaltung sind schlicht, aber fundiert, den Bildern untergeordnet. Die notwendigen Fakten liefern dezente Kommentare und Bildunterschriften sowie ein umfangreiche Zusammenstellung digital verfügbarer Publikationen und weiterführender Links. Ohne mit überfrachteter Technik oder Multimedia-Schnickschnack zu protzen, entfalten die Bilder auf dem iPad durch ihre Strahlkraft eine beklemmende Wirkung: Ob Innenansichten des zerstörten Reaktors oder Gesichter von Opfern der Katastrophe von Tschernobyl, zum Greifen nah, in erschreckender Intensität und zum Teil überzeugender, als gedruckte Bilder das könnten.
Die Geschichte der Produktion ist fast noch spannender als ihr Resultat: Weil in der Medienberichterstattung kaum noch Etats zur Umsetzung solcher Projekte wie „Der lange Schatten von Tschernobyl“ existieren, hat sich Gerd Ludwig auf die Suche nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten gemacht. Im Vorfeld des 25. Jahrestages von Tschernobyl hat sich der Dokumentarfotograf über die Plattform Kickstarter an die Öffentlichkeit gewandt, sein Langzeitprojekt dort vorgestellt und um Hilfe für dessen Finanzierung gebeten. Erfolgreich: Insgesamt 435 Spender haben gemeinsam fast das Doppelte der kalkulierten Kosten aufgebracht und es Gerd Ludwig ermöglicht, im Frühjahr 2011 insgesamt fünf Wochen in der verstrahlten Zone rund um Tschernobyl zu arbeiten.
Die englischsprachige App, eine Gemeinschaftsproduktion von Gerd Ludwig und dem neuen Verlag Lightbox Press, der sich auf digitale Fotobücher spezialisiert hat, ist im iTunes-Store für 5,49€ erhältlich. (Download mit leistungsfähiger Datenleitung empfohlen!)
Heike Rost
Weiterführende Links:
Das Projekt „Der lange Schatten von Tschernobyl“
Die Kickstarter-Kampagne zum Projekt
Die Facebook-Seite zum Projekt